Waren die 90er das beste Jahrzehnt?

Auch wenn unsere Fragestellung ziemlich weit gefasst ist, so weiß doch jeder, worauf wir hinauswollen. Denn hier geht es um eine Frage von Zeitgeist und Mentalität, die die Mode und Kunst der 90er überhaupt erst möglich gemacht haben.

Die 90er waren eine wundervolle Symbiose von technologischem Fortschritt und der individuellen Freiheit des Einzelnen. Dabei konnten gesellschaftliche Konventionen noch nicht Schritt halten mit dem rasanten Aufstieg der damaligen Kultur.

Das Internet war noch gefährlich

Auch wenn das Einwählen in den 90ern noch gang und gäbe war, so lief man doch ständig Gefahr, an der nächsten Ecke über unerwünschte Inhalte zu stolpern. Ruckzuck fand man sich dann in einem Forum mit Bildern von Kartellkriminalität wieder, vergleichbar damit, wie häufig sich heute das Pop-up einer Online Spielothek öffnet. Echte geheimdienstliche Dokumente konnten mit einer simplen Google-Suche aufgerufen werden, genauso wie die Kontaktdaten von Auftragskillern. Was heute als Darknet gilt, war damals ganz einfach das Internet. Dazu passt perfekt das Zitat von Kelso, gespielt von Tom Noonan, in Heat (1995, Michael Mann), der sagte: „Der ganze Kram fliegt einfach durch die Luft. Da senden sie Informationen durch die Gegend und du musst einfach nur noch zugreifen.“

Das Leben war noch erschwinglich

In den 90ern konnte man sich das Leben noch leisten. Sei es ein Glas Bier, Kinokarten oder der Wocheneinkauf, alles war billiger. Die Lebenshaltungskosten waren niedriger und man kam weiter mit seinem Geld. Da war mit einem durchschnittlichen Einkommen auch schon einmal ein Apartment mitten im Zentrum drin. Ein gutes Leben war im arbeitsfähigen Alter damals viel eher eine Selbstverständlichkeit, während wir heute schon fast einen Nebenjob brauchen, um uns halbwegs über Wasser zu halten.

(Niedrige Benzinpreise)

Das Essen hat noch geschmeckt

Vor 30 Jahren gab es noch viel weniger Regularien und Vorschriften seitens der Kontrollbehörden, sodass Geschmäcker sich noch frei entfalten konnten. Das führte dazu, dass die Lebensmittelindustrie sich gegenseitig mit Salz-, Zucker- und anderen Zusätzen übertraf. Ohne Rücksicht auf die Gesundheit wurden Produkte in den 90ern noch vollgepumpt mit Salz und Zucker, das schmeckte halt einfach besser.

Dazu eine ernstgemeinte Frage – wer erinnert sich noch, wie süß Tomaten damals waren? Und lasst euch gesagt sein, sogar Avocados können süß schmecken!

(Frische Tomaten)

Autos konnten noch fliegen

Auch wenn wir mit diesem Szenario noch nicht ganz durch sind, so wissen wir doch, dass uns heutzutage viel eher eine Apokalypse bevorsteht, als dass wir zu Piloten fliegender Autos werden. In den 90ern war man sich noch sicher, 2020 den Mars kolonisiert zu haben. In den 2020ern haben wir es stattdessen mit einer Energie- und Ressourcenkrise zu tun, die uns in unserem Fortschritt wieder weit zurückwirft. Wir sind vielmehr auf Stagnation eingestellt als auf bahnbrechende Entwicklungen, die den Weltfrieden bringen, und wähnen uns schon dankbar, wenn die Lampen zu Hause noch angehen.

Die Musik war noch gut

In den guten alten Tagen hatte das Internet den traditionellen Vertriebs- und Produktionskanälen noch nicht den Rang abgelaufen, sodass Alben wie Urban Hymns (1997) von The Verve und zahllose Oasis Tracks veröffentlicht werden konnten. Wide Angle (1999) von Hybrid machte schließlich Orchester-Elektro salonfähig, etwa so wie Hans Zimmer auf Breakbeats. Popmusik besann sich wieder auf ihre klassischen Wurzeln und Melodien wurden dank neuartiger Geräte ausgebaut, anstatt einfach ersetzt zu werden. Auch heute noch werden Online Slots erstellt, die mit Soundtracks aus den 90ern hervorstechen. Mumble Rap, zu Deutsch „Nuschel-Rap“, war damals noch undenkbar und Gotteslästerung für Rap-Fans der ersten Stunde.

Die Filme waren noch gut

Je mehr Probleme im echten Leben tatsächlich gelöst werden, desto weniger bleibt für die Kunst übrig. Da werden die Themen schon einmal etwas unspektakulärer, vor allem in Filem, die aus Hollywood kommen. Heute können Actionhelden nicht mehr zu mittelalterlichen Mitteln greifen, wenn es darum geht, einen Widersacher unschädlich zu machen. Das ist auch der Grund, warum sich Daniel Craig in all seinen James Bond Filmen eher mal erkundigen muss, was mit dem Gegner jetzt anzufangen sei. Und auch wenn Film und Publikum sich eigentlich einig sind, so läuft es doch auf eine ziemlich mickrige Auflösung hinaus, alles absichtlich beschwichtigend. 2022 gäbe es die Ereignisse aus Heat nicht so wie es sie 1995 gegeben hat. Trotzdem freuen wir uns, dass The Town (2010, Ben Affleck) es zumindest versucht hat. Matrix (1999, Wachowski-Geschwister) und Fight Club (1998, David Fincher), ersterer trotz aller Anstrengungen von Regisseurin Lana Wachowski mit der 2022er-Variante, sind allerdings heute so nicht mehr machbar. Bei Fight Club leidet der Protagonist schließlich unter seinem geregelten und sicheren Leben und ist dem endlosen Konsum verfallen, ein Thema was in unserer heutigen, von Zeitarbeit und befristeten Verträgen bestimmten Gesellschaft einfach nicht mehr funktioniert.